Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960) (Veröffentlichungen des zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen) - Erstausgabe

Der Titel des Buches überrascht, da der Milieubegriff auf die protestantisch-konservative Bevölkerungsgruppe bislang keine Anwendung fand. Dagegen sprach die kulturelle und politische Zersplitterung des konservativen Lagers, vor allem aber das Fehlen eines "gesellschaftlichen Schlüsselkonflikts", der, wie der Kulturkampf oder die Sozialistengesetze unter Katholiken und Arbeitern, zur Ausformung einer Gegenwelt mit gemeinsamen Wert- und Normensystem, gemeinsamen Organisationen und Deutungsmustern führte.

Hier setzt die Untersuchung an. Im Zuge der Kriegsniederlage, der Revolution und der Republikgründung 1918/19 sei es sehr wohl zu einer tief greifenden Umbruchssituation gekommen, konstatiert Frank Bösch. In deren Verlauf sahen sich die Konservativen einer ähnlichen Repressionserfahrung ausgesetzt wie die Katholiken und Sozialisten im frühen Kaiserreich. "Zumindest in ihrer subjektiven Erfahrung wähnten sie sich derartig vom 'Marxismus' bedroht, dass sie in Form des Milieus ihre eigene Gegenwelt ausbauten."

Am Beispiel der norddeutschen Städte Celle und Greifswald beschreibt Frank Bösch das dichte organisatorische und weltanschauliche Netzwerk dieses Milieus. Dessen Träger waren nicht in erster Linie die Parteien, sondern die zahlreichen, sich selbst als "unpolitisch" oder "bürgerlich" begreifenden Krieger-, Schützen-, Heimat- und Turnvereine. Mithilfe ihrer Vereinsfeste und -aktivitäten prägten sie das gemeinsame Weltbild vor Ort und etablierten eine gemeinsame "Sozialmoral", die auch in der Zeit des Nationalsozialismus ein erstaunliches Beharrungsvermögen bewies. Nach Kriegsende konnten die neu gegründeten, konservativ ausgerichteten Parteien an dieses kommunikative Netzwerk anknüpfen und legten so den Grundstein für die späteren Wahlerfolge der CDU.

Mit dieser bemerkenswerten Studie ist Frank Bösch ein Buch gelungen, das, bei aller gebotenen Wissenschaftlichkeit, auch der historisch interessierte Laie mit Gewinn lesen wird. --Stephan Fingerle