Nemeth, Elisabeth:Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch
- Erstausgabe 1981, ISBN: 9783593329567
[ED: kartoniert], [PU: Campus Verlag], Elisabeth Nemeth
Otto Neurath und der Wiener Kreis
Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch
Campus Frankfurt 1981
Inhalt:
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[ED: kartoniert], [PU: Campus Verlag], Elisabeth Nemeth
Otto Neurath und der Wiener Kreis
Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch
Campus Frankfurt 1981
Inhalt:
Einleitung 3
I. TEIL. Otto Neuraths Begriffe der Utopie und der wissenschaftlichen Nationalökonomie als Voraussetzung für sein Wissenschaftsverständnis im Wiener Kreis
1. Abschnitt: Utopie und Gesellschaftstechnik 11
2. Abschnitt: Eine neue Reichtumslehre von höchster wissenschaftlicher Allgemeinheit 21
A. Kritik an der bestehenden Nationalökonomie 22
B. Lust als wissenschaftlicher Gegenstand 24
C. Konstellationen 27
D. Verschiebungsregeln 29
E. Gesamtheften 34
F. Organisation 38
G. Tabellen 41
H. Abstraktionen 45
I. Wissenschaft im Dienst zukünftiger Praxis 50
II. TEIL. Der Wiener Kreis zwischen Sozialdemokratie und Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus
1. Abschnitt: Zum Einfluss der Sozialdemokratie im Wiener Kreis 55
2. Abschnitt: Ornamentlosigkeit ist ein Zeichen geistiger Kraft - Zu Wittgensteins Tractatus und Schönbergs Harmonielehre 61
3. Abschnitt: Der Weg zur Politisierung der Wissenschaft 76
4. Abschnitt: Die Wissenschaft im Verhältnis zur gegenwärtigen Praxis 93
III. TEIL. Wissenschaftliche Weltauffassung als Aufgabe
1. Abschnitt: Die Wissenschaft an der Schwelle zu einer neuen Zeit 103
2. Abschnitt: Antimetaphysische Wissenschaft - eine erste Annäherung 113
3. Abschnitt: Wir haben auf die Wirklichkeit verzichtet 122
A. Auch die Sätze der Logik und Mathematik sind nicht sicher 123
B. Es gibt kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit 127
C. Die Wendung Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist nicht einmal als Metapher zu gebrauchen 130
4. Abschnitt: Was ist Reinigung der Sprache von Metaphysik 135
5. Abschnitt: Die Frage nach der Ordnungsbeschaffenheit der Sätze als Frage nach den Bedingungen der Wissenschaft 143
6. Abschnitt: Die Einheit der Einheitswissenschaft 148
7. Abschnitt: Die Sprache an der Stelle des Denkens 156
8. Abschnitt: Die Rolle der Logik 167
9. Abschnitt: Die Praxis zieht die Grenzen 177
A. Die Verirrten des Cartesius 177
B. Der Rationalismus als historisch gefordertes Verhältnis von Theorie und Praxis 181
C. Die Verbreitung wissenschaftlicher Weltauffassung als - politische - Praxis 189
Anmerkungen 201
Literatur 211
Aus der Einleitung:
Zu Anfang der zwanziger Jahre waren wir überzeugt, dass die Reformen der Gemeinde Wien auf sozial- und schulpolitischem Gebiet den Beginn der neuen Zeit bedeuteten. Doch am Ende dieses Jahrzehnts war es schon klar, dass die Entwicklung eine ganz andere und von unserem Standpunkt aus sehr bedenkliche Richtung genommen hatte. Auf viele von uns hatte das die Wirkung, dass wir uns für alles interessierten, was die Enttäuschung unserer Hoffnungen erklären konnte. Ich erinnere mich einer Bemerkung, dass die heraufziehende Revolution vor allem Nationalökonomen brauche (ein Hinweis auf die sozialistische Vorkriegsliteratur) dass die siegreiche Revolution sich auf Ingenieure stütze (eine Anspielung auf Russland) und dass die verlorene Revolution aus uns Sozialpsychologen gemacht habe. Diese rückblickende Bemerkung Paul Lazarsfelds aus dem Jahr 1960 stellt einen Zusammenhang her zwischen der Entstehung einer bestimmten wissenschaftlichen Fragestellung - nämlich der sozial-psychologischen - und den Erfahrungen einer Gruppe enttäuschter Revolutionäre. Die Sozialpsychologie soll Erklärungen bieten für die Enttäuschung der Hoffnungen auf den Beginn einer neuen Zeit.
Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines Versuchs, bestimmte Fragestellungen und Lösungen des Wiener Kreises unter einer ähnlichen Perspektive in den Blick zu bekommen: Welche Situation produziert das Interesse an der Wissenschaft als Wissenschaft? Warum und wie wird die Wissenschaftlichkeit selbst zu einem Anliegen? In diesen Fragen ist die These mit enthalten, dass im Wiener Kreis nicht bestimmte wissenschaftliche Probleme, sondern die Wissenschaft und die Wissenschaftlichkeit als solche eine Bedeutung bekommen, die nicht selbstverständlich ist und die der Erklärung bedarf.
Freilich ist die euphorische Hoffnung auf den Beginn einer neuen Zeit nicht das eigentliche Charakteristikum für den Wiener Kreis. So wie die Sozialpsychologie ist auch der Wiener Kreis ein Phänomen der späten zwanziger und dreißiger Jahre, er gehört also eigentlich nicht in die Phase des Neubeginns und scheint mir deshalb auch als Teil der Aufbruchsbewegungen der Zwischenkriegszeit nur unvollständig beschrieben zu sein. Vielmehr muss der Wiener Kreis als Phänomen verstanden werden, in dem sich sowohl der Wille zu einem umfassenden Neubeginn als auch bereits eine Reaktion auf einen Rückschlag zeigt. Das programmatische Wissenschaftsverständnis des Wiener Kreises formuliert also nicht einen Begriff von Wissenschaft, der - mit den Worten Josef Franks - endlich einen ersehnten Neubeginn setzt, sondern formuliert den Willen zum Neubeginn in einer gesellschaftlichen Situation und auf sie hin, in der sich die Zerschlagung der Möglichkeit eines solchen neuen Beginns immer deutlicher abzeichnet. Ich habe diese Spannung nachzuzeichnen versucht in der Beziehung von Wissenschaft und Politik, wie sie sich im Wiener Kreis darstellt. Dabei konzentrierte sich die Perspektive immer mehr auf Otto Neurath, dessen exponierte Position in seinem politischen Engagement und in seinem Wissenschaftsverständnis die politische Bedeutung der Wissenschaft und des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit in ihre, wie mir scheint, interessantesten, wenn auch durchaus nicht für alle Mitglieder des Wiener Kreises gültigen Formulierungen gebracht hat. Die Antwort auf die Frage danach, wie die Wissenschaft politisch praktisch wird, gewinnt bei Neurath in drei verschiedenen Phasen drei jeweils verschiedene Gestalten.
Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg versuchte Neurath als Volkswirtschaftsbeauftragter der Münchener Räterepublik ein Vollsozialisierungsprogramm durchzuführen, dem seine nationalökonomischen Arbeiten, insbesondere die Konsequenzen, die er aus der Kriegswirtschaftslehre zog, zugrunde lagen. Nach der Zerschlagung der Münchener Räterepublik und damit der Möglichkeit einer konkreten praktischen Umsetzung seiner Vorstellungen von einer umfassenden ökonomischen Neuorganisation bekam für Neurath der wissenschaftliche Utopismus, der bereits Grundlage für die Entwicklung des Sozialisierungsprogramms gewesen war, eine neue, verschobene Bedeutung. Es ging jetzt mehr und mehr darum, Bilder von verschiedenen möglichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen zu entwickeln und festzuhalten, die sozialistischen Prinzipien entsprachen und die die wesentlichen Grundzüge einer sozialistischen Ordnung in einer Zeit vor Augen halten sollten, in der die Machtverhältnisse für eine Durchführung dieser Ordnung noch nicht oder nicht mehr gegeben waren. Gegen Ende der zwanziger Jahre konzentrierte sich Neuraths Interesse auf die Wissenschaft und die Durchsetzung einer neuen Wissenschaftlichkeit, die für ihn mit einer gesellschaftlichen Neuordnung immer schon verbunden gewesen war die Bemühung um die Verbreitung wissenschaftlicher Weltauffassung und der Kampf gegen metaphysische Strömungen, wie sie für den Wiener Kreis - vor allem von Neurath - programmatisch formuliert wurden, wurden nun aber selbst zur politischen Aufgabe.
Für Neurath war die Revolution der Wissenschaft mit der Arbeiter-Revolution zunächst wesentlich verbunden, wobei wir allerdings sehen werden, dass Neurath die Revolutionierung der Wirklichkeit durch die Wissenschaft auch ohne Arbeiter-Revolution, also ohne die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung für historisch unvermeidbar hielt. Jedenfalls hatte für Neurath - und mit ihm für einen Teil der anderen Mitglieder des Wiener Kreises - die revolutionäre Kraft der Wissenschaft eine entscheidende Bedeutung für die bewusste - sozialistische - Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Die Verbindung zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit einer revolutionären Neuordnung der Gesellschaft und der konkreten Formulierung eines bestimmten Begriffs von Wissenschaft und wissenschaftlicher Technologie scheint mir wert, untersucht zu werden, nicht zuletzt zur Aufklärung des Anspruchs, Grundlage und Ausgangspunkt einer richtigen Praxis zu sein, der mit dem wissenschaftlich begründeten Wissen nach wie vor verbunden, aber hauptsächlich als verdrängter, also hinter dem Rücken der Wissenschaft treibenden und Wissenschaft konsumierenden Individuen wirksam ist.
Ich habe also in der Beschäftigung mit Neurath und dem Wiener Kreis einen Aspekt der Frage zu beantworten versucht: Was bedeutet der Wille, wissenschaftlich zu argumentieren, den Forderungen der Wissenschaft gerecht zu werden? - Eine solche Frage klingt undifferenziert was ist schon die Wissenschaftlichkeit so allgemein formuliert? Die Frage muss, um bearbeitbar zu sein, tatsächlich eingeschränkt werden die Einschränkung, die sich von Neuraths Stellung im Wiener Kreis her ergab, ist eben die Verbindung mit der gesellschaftlichen Revolution, die Neurath an einem bestimmten Begriff von Wissenschaft sah. Aber auch die Frage nach der Wissenschaft im allgemeinen ist mir als Perspektive wichtig. Denn erstens ist der Anspruch wissenschaftlicher Verbindlichkeit in eben dieser Allgemeinheit wirksam und realisiert sich in einem sich selbst bestätigenden und reproduzierenden Wissenschaftsbetrieb und zweitens - und hier scheint mir eben die Chance in der Beschäftigung mit dem Wiener Kreis zu liegen - wurde der Anspruch der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Vorgehens in eben dieser Allgemeinheit erhoben und ausdrücklich formuliert. Diese Formulierung konnte trotz ihrer Allgemeinheit Konturen und Bestimmtheit gewinnen, weil sie sich gegen einen ebenso umfassenden und allgemeinen Anspruch artikulierte: was Wissenschaft im Wiener Kreis ist, kann nicht genau gefasst werden ohne die Bestimmung der Wissenschaft als Antimetaphysik. Die Metaphysik war also der konkrete Gegner und damit der negative Bestimmungspunkt, von dem aus entscheidende Merkmale des Wissenschaftsbegriffs des Wiener Kreises festgelegt wurden. Was aber die Metaphysik sei, wurde im Wiener Kreis nicht durch eine Auseinandersetzung mit der Tradition bestimmt. Die konkrete Bedeutung der metaphysischen Begriffe, gegen die die wissenschaftlichen konzipiert wurden, musste woanders herkommen als aus einer gründlichen Sachkenntnis der historisch entwickelten Metaphysik. Mir scheint, dass nur diejenigen antimetaphysischen Begriffe und Problemstellungen des Wiener Kreises eine gewisse Kraft, Konsistenz und Plausibilität haben, die im Bewusstsein darüber gefasst wurden, dass der Kampf gegen die Metaphysik, in dem sich diese Begriffe überhaupt erst formierten, sich nicht gegen das richtete, was in der historisch entwickelten Metaphysik gedacht worden war, sondern gegen eine Bedeutung der metaphysischen Begriffe, die sie erst in der Gegenwart erhalten haben. Diese Bedeutung ist aber nicht aus den Begriffen selbst zu ersehen, sondern aus der Art ihrer Verwendung in der Gegenwart. Bei keinem Mitglied des Wiener Kreises wird diese Einsicht so deutlich wie bei Neurath. Wir werden sehen, dass er seinen antimetaphysischen Kampf zu einem Großteil als Kampf gegen den Pseudorationalismus führte, der nach dem Zusammenbruch der Verbindlichkeit bestimmter Traditionen versucht, diese durch rationale Einsicht zu ersetzen, und damit erst eigentlich zum Gegner des wissenschaftlich Denkenden, zum Metaphysiker wird, indem er durch angeblich eindeutige wissenschaftliche Aussagen zu rechtfertigen sucht, was in Wahrheit nur durch praktische Wertsetzung gerechtfertigt werden kann. Die Wissenschaft also gewinnt im Wiener Kreis klar umrissene Züge soweit sie als die der entwickelten historischen Situation entsprechende Art des Denkens gegen die - anachronistische - Metaphysik konzipiert wird, die Ablehnung der Metaphysik selbst aber nicht als theoretisch, sondern als historisch begründet gesehen wird. Die Arbeit an einem solchen historisch geforderten Begriff der Wissenschaft und die Verbreitung des so gefassten wissenschaftlichen Denkens kann für Neurath am Ende der zwanziger Jahre zu derjenigen politischen Praxis werden, die die notwendige gesellschaftliche Revolution im Bereich des Denkens begrifflich zu fassen und ihren Begriff aufrechtzuerhalten und zu verbreiten versucht.
Biographisches:
Elisabeth Nemeth, Dr. phil., studierte Philosophie, Psychologie, Pädagogik und katholische Theologie an den Universitäten Wien, München und Oxford. Seit 1975 ist sie Assistentin am Institut für Philosophie der Universität Wien.
Impressum:
Campus Forschung Band 229
Elisabeth Nemeth
Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch
Campus Verlag Frankfurt / New York
Publiziert mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
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Druck und Bindung: difo-druck. Bamberg.
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ISBN 3-593-32956-5.
Zustand:
213 Seiten, kartoniert
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